Gustav Gerhardy an seine Mutter
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Tier, den 18 Mai 1882
Liebe Mutter
Mein Wäschkoffer ist seit den etwas
wärmeren Tage, in denen wir durch
beständiges Bataillons- Exerziren
in dem nöthigen Echauffement gehortet
worden sind, wieder bis an den Rand
angefüllt, da du nun auch, wie ich
aus einer am gestrigen Tage erhaltenen
Korrespondenz, hörte vom Onkel-Hermann
den Heiligenstädter AuktionsTribul heute
dir fast, und hoffentlich ohne weitere Nach¬
wehen glücklich daheim weilst, so will
ich denn auch nicht länger zögern und
meine
Pakete deiner sorgenden und schaffenden
mütterlichen Hand zukommen lassen. Lei¬
der kann ich nicht so viel Zeit erübrigen
eine längere Epistel, wie du sie ja
besonders liebst, damit zu verbinden.
(da mir die Zeit dazu fehlt.) Auch wirst
Du von dem 12 Seiten meines vorigen
Briefes noch so voll sein, daß du noch nicht
zur Erwiderung hast schreiten können.
Inzwischen haben hier neue Ideen das
Herz deines Jüngsten sowie seiner intim¬
sen Kameraden bewegt. Wie denkst
du zum Beispiel über die Türken. Es
wird Euch nicht unbekannt sein, das kürz-
lich mehrere preusische Offiziere: Oberst der
Kavelleri von Kehler „gg" der hohen Pforte
mit den vorzüglichsten Bedingungen
ihre Dienste angeboten haben. Dieselben
sind vom Kaiser 3 Monate beurlaubt,
und sollen dann sich entscheiden, jedoch bleibt
Ih ihnen der Rücktritt mit altem Plafond
auf 3 Jahre freigestellt dort haben sie
alle sofort Generalstabsverwendung
Kehler hat den Rang eines Divisionskommandant¬
werden vorzüglich bezahlt, werden hoch¬
angesehen und sind mit einem Schlag Leute
geworden, die im dortigen Lande die
Aussicht zu den höchsten Stellen haben. Hier
zu Lande ist die Aussicht, daß man seinem
Vater bis zum 40ten Lebensjahre auf der
Tasche liegt und 20 Jahre als (Beronde) Leut-
nant versauert. Ihr werdet sagen
was hat der Junge für verrückte und
abenteuerliche Ideen und in diesem
Falle urtheilt ihr Subjectiv
Seht Euch aber
die Sache einmal vom objectiven Stand¬
punkt an. War Moltke nicht auch in
türkischen Diensten, war der alte Göben
nicht auch in ausländischen Diensten und
was sind beide für anerkannte Männer.
Ich will mich betrefft meiner Veranlagung
nun allerdings mit keinem messen, aber
ich glaube, ebenso gut, wie jene Offiziere,
die überzutreten beabsichtigen, diesen
Schritt nur mit den vorzüglichsten Aussichten
und Anerbietungen gethan haben ebenso
können sich für jeden anderen jung Offizier
gleiche Autsichten eröffnen, zumal gerade
letztere mit ihrer gediegenen Bildung dort
rar sind. Vorläufig ist dies nur noch
eine Idee. Ich glaube aber, daß einer meiner
Kameraden sehr bald weitere Schritte thun
wird. Ich bleibe gerne im Lande und nähre meine Planzen
Zuletzt geändert: 31.05.2024 16:22:08