Tobelbad, den 23.2.64
Lieber Kluti
Grüße eines Eremiten an einen anderen? Vielleicht bist Du ein nur geistiger
Einsiedler, ich bin zwar nicht 1000 Fuß über . . . - ich
weiß nicht wie es weiter geht, aber ich bin 1000 km entfernt
von, wie es scheint, auch meiner geistigen Heimat. Du wirst also mit
Entwurzeltem, falls überhaupt mit Geistigem, gestört,
unterhalten, gelangweilt werden.
Ich bin in einem Rehabilitationszentrum, ich soll rehabilitiert werden.
Das ist mit einem großen körperlichen Aufwand verbunden,
der wiederum mit einer großen geistigen Trägheit, die
scheinbar auch mit etwas moralischem Schwachsinn, denn die
Lebenszeichen, die ich von mir geben sollte, stehen in einem krassen
Mißverhältnis zu denen, die ich tatsächlich von mir
gebe. Ich bin passiver Passivist geworden, an welcher Formulierung Du
richtig bemerken wirst, daß [Robert] Musil in meinem
Reisegepäck war. Musil ausschließlich und konzentriert,
bedenklich und bedrückend, fast scheine ich süchtig zu
sein, wie sollte man es sonst erklären. „Der Mann ohne
Eigenschaften“, überhaupt Musil scheint hier unbekannt zu
sein, die Leute, von denen man erwarten dürfte, daß sie
über einige Literaturkenntnisse verfügten, reagieren auf
Musil überhaupt nicht, so wie wir auf steirische
Heimatschriftsteller reagieren würden, dabei wurde Musil 150 km
von hier entfernt geboren. Das ist um so verwunderlicher, als die
Ãsterreicher in ihren Massenmedia ernstliche, wenn auch nicht
Ernst zu nehmende Versuche machen, ein Nationalgefühl zu
entwickeln. Aktueller Anlaß war die Olympiade, die
österreichischen Goldmedaillen wurden von Pracht-burschen zur
Ehre der österreichischen Farben gewonnen, fast verdiente Helden
des Vaterlandes. Der Bundeskanzler, der Präsident, die Presse,
der Rundfunkreporter fallen in Pathos, das unser geschichtliches „zu
spät“ auf den vorletzten Platz vorrücken läßt.
Österreich, das Volk der Musiker und Geiger, so nennen sie sich
selber. Auch die ironische Adoption Beethovens zu einem Ãsterreicher
durch Diotima [Gestalt aus Der Mann ohne Eigenschaften] gilt noch
heute. Sie kultivieren die Klassiker, halten Wien für das
deutschsprachige Theater-, Opern- und Musik-zentrum und forschen
eifrig nach neuen, natürlich bedeutenden Talenten, die hier so
zahlreich wachsen sollen, wie anderswo Intellektuelle, wenn man den
Sprechenden Glauben schenkt. Schweigen und etwas weniger wäre
wohl wie meistens besser - so unbestimmt werden wohl auch die Orakel
von Delphi gewesen sein - aber zuviel zuwenig ist auch nicht gut, das
praktiziere ich nämlich. Die Gesellschaft, die mich umgibt ist
in der überzahl auch gelähmt, aber dennoch - das ist kein
Gegensatz, mich wundert es trotzdem immer wieder, bisweilen, finde
ich, müßte es einer sein - albern, lustig bis zum übermaß,
da einige Charmeure dabei sind mit entsprechenden Gegenübern,
auch öfters etwas anrüchig, im Ganzen ein ausgelassener
Haufen, der immer noch von der Euphorie zehrt, die solche Traumata in
der Regel in der ersten Phase erträglich macht. Ich finde, ich
passe nicht so recht dazu, denn der Witz ist nicht scharf, ätzend,
treffend sondern mehr harmlos, gutmütig, immer leicht ins
Blödeln und Geistlose umschlagend, manchmal garnicht ins
Geistreiche aufsteigend, so schweige ich. Immerhin scheint es ein
bedeutendes [bedeutsames] zu sein, denn ich wurde, werde für
klug gehalten, in der Schule habe ich doch sicher nur Einsen gehabt!
Dieser Zustand sichert eine gewisse Achtung, solange ich ihn durch
Schweigen aufrecht erhalte. Ich glaube, ich werde Dir am Ende dieses
Aufenthalts im Nichtreden ebenbürtig sein.
Fördert Schweigen das Gedankenkarussell oder lähmt die Vernachlässigung
der Sprechwerkzeuge auch die Sprache, die Gedanken selbst? Ja und
Nein. Weder noch, sowohl als auch.
Ich komme Zusammenhängen, die ich früher empört abgelehnt
hätte, mit den Jahren ein wenig auf die Spur. Das ist
Bestandteil des weise Werdens, ohne das ich das für mich
beanspruchte. Ist der Mensch (psychologisch) determiniert oder gibt
es einen freien Willen, darauf läuft es hinaus. Einst wäre
ich nie bereit gewesen, auf den freien Willen und dem immer anders
können etwa nicht zu bestehen. Aber wenn man nur noch anders und
gar nicht mehr richtig kann, wird es mit dem freien Willen doch ein
wenig fragwürdig. Ich muß jetzt ordnen und konkret werden.
In das Raucherabteil einer Straßenbahn oder nicht einzusteigen
ist keine Manifestation des freien Willens. Man muß eine
Rangordnung der Willensakte einführen. Die primitiven,
einfachen, meist wohl auch mit konkreten Dingen verbundenen sind,
waren oder werden überall frei sein und immer. Wenn der Wille
durch nichts gehindert wird, durch keine Verbote juristischer,
moralischer, ästhetischer, was weiß ich welcher Natur, ist
die Möglichkeit der Wahl trivial. Wille und Ziel genügen
noch nicht, es gehört noch ein Hindernis dazu, das dazwischen
liegt. Aber ob nun Hindernisse innerer oder äußerer Art
überwunden werden oder nicht, auch ein nicht tun kann ein
Willensakt sein, läßt die Frage ob es freiwillig war,
offen. Psychologische Reaktionen spielen in meiner Selbstbetrachtung
eine immer größere Rolle. Diese
Gefühls-Ursache-Folge-Reaktionen sind aber auch nicht frei. Das
Ergebnis dieser überlegungen mündet in ein freiwilliges
autogenes Training, ich weiß nicht genau, was ein autogenes
Training ist, ich stelle es mir aber so vor, daß es hier passen
müßte, gleichsam die Räume des Bewußtseins so
verschieben, daß der Punkt des ich in der, da liegt wieder der
Hund begraben, gewünschten Weise, von was gewünscht,
reagiert. Das Ganze kommt mir wie ein Kreislauf vor, Unbekanntes wird
mit Unbekanntem erklärt. Aber es ist dennoch recht stabil.
Mir scheint, der Brief ist lang genug, um das Schweigen zu überbrücken.
Ich hoffe, die ausge-lassenen übergänge zwischen den
einzelnen Gedanken bereiten Dir nicht allzuviele Schwierigkeiten.
Dein Bernd
Zuletzt geändert: 05.08.2024 06:29:26