Bad Godesberg, den 23. Juli 62
Lieber Kluti
Noch bin ich zu Hause und diesem Umstand verdankst Du die wahrscheinlich
prompte Beantwortung Deines Briefes. An dieser Einschränkung
siehst Du, wie es um mich steht. Es geht nach meinem Gefühl -
ich war erst zu einer Untersuchung und warte jetzt auf ein frei
werdendes Bett und weitere Untersuchungen - gar nicht mehr darum, ob
ich operiert werde oder nicht, sondern ob zwei- oder einmal. Meine
Führerscheinpläne habe ich vorerst notgedrungen aufstecken
müssen, ich kann den rechten Fuß nicht mehr richtig
bewegen, und das Studium habe ich auch fallen gelassen, nachdem
Testate und Übungsscheine sichergestellt sind. Ich warte zu
Hause auf einen erlösenden Anruf, daß ein Bett frei ist.
Ein Vakuum hinter mir und noch nichts vor mir, ich hänge im
luftleeren Raum. Die Situation ist so pervertiert, daß ich mich
fast freue, wenn es soweit ist. Ich habe, als notwendige Folge dieser
erzwungenen Aktionsunfähigkeit wieder angefangen zu lesen,
Grillparzer und Heine, deren gesammelte Werke ich in unserem
Bücherregal fand. Rilke wollte ich mit ins Krankenhaus nehmen,
auch von ihm habe ich Gesammeltes gefunden, also wird meine Notiz des
Gelesenhabens mit eventuellem Kommentar zum „Kornett“
noch ein Weilchen auf sich warten lassen. Rilke, weil ich neuerdings
Interesse für Gedichte entwickelt habe.
Ich bin allein zu Hause, meine Mutter arbeitet und Dani ist bei
Verwandten. Die teilweise Auflösung unserer Familie wird zu
einer völligen Atomisierung fortgetrieben. Eigentlich ein für
mich trotz aller Hemmnisse genüßlicher Zustand. Die
Einschränkung bezieht sich wohl nur auf die leider kurze
Zeitspanne dieses (pseudo-)paradiesischen Zustandes. Es fehlt
vielleicht eine Eva, aber vor dem Sündenfall haben die beiden ja
auch nicht so viel voneinander gehabt. Großer Gedanken-sprung,
keine Ironie, auch keine doppelte, ich bin in einem Zustand, in dem
man sich auf seine Grundlagen zurückbesinnt. Alle primären
Fragen des Warum, Wieso, Weshalb (überhaupt) würgen sich
aus ungeordnetem Gedankengewühle heraus und, und das ist das für
mein ich, das als scheinbar Unbeteiligter zusieht, so Faszinierende,
formieren sich zu einem immer größer werdenden Fundament,
auf dem sich mein Leben abspielt(en wird). In dem Drama meines Lebens
wird sich der Held seiner selbst bewußt. Eigentlich müßten
diese Sätze nur eine Einleitung zu den dann folgenden
Invarianten und deren Verknüpfungen untereinander sein, aber sie
sind mir noch zu neu, zu teuer und zu unausgegoren um sie schon in
Worte zu gießen und diese Worte dann noch zu verschicken.
Ich glaube, ich weiß was mein „ich“ (was es will, es
ist mehr als nur das „ich“) will, ich habe ein Ziel und
dieses Ziel beschränkt mich fast garnicht. Es ist kein dummes,
schädliches, ausschließliches Nur, an dem so viele
Philosophien kranken. Ich bin wie jemand, der lange im Dunkeln
gesucht hat und jetzt sich selber gefunden hat. Ich glaube, ich lebe
im Einklang mit mir selbst. Das ist ein hohes Ziel, und die Umwelt
will es immer entreißen, aber eher will ich mich der Umwelt,
als sie mir mein Ziel entziehen. Das ist die Kunst des Lebens,
zwischen Selbstzerstörung und Selbstverkümmerung den
schmalen Grat der Selbstverwirklichung zu finden. In diesen ganzen
Sätzen steckt ein klebriger Optimismus, der aber in jeder allzu
positiven Aussage steckt. Diese hier ist aber nur so positiv
geworden, weil ich sie so allgemein gehalten habe. Ich habe das
austarierende Gegengewicht angebracht und es bleibt nichts mehr als
Deiner Mutter auf diesem Umwege gute Besserung zu wünschen.
Dein Bernd
Zuletzt geändert: 14.05.2024 16:29:39