Bonn, den x September 62
Lieber Kluti
Mein von [Marcel] Proust aufgeweckter Intellekt beginnt sich langsam
wieder zu regen. Er und ein dumpfes Gefühl, daß Du am 8,
(14), 20. September Geburtstag hast, ich bilde mir ein, irgendwann im
September, treiben mich zu diesem Brief. Falls die Vermutung stimmt,
im voraus oder nach-träglich die üblichen Glückwünsche
und das Versprechen, daß ich mich, sobald ich mich in einen
Buchladen begeben kann, ich denke, in Wildbad in 4 Wochen, für
den Proust revanchieren werde,
Nach dem ersten vergeblichen Anlauf, ich scheiterte an einer wieder
aufflackernden Niereninfektion, hoffe ich, daß der Brief
diesmal weggeht. In dem Zeitplan hat sich inzwischen einiges
geändert, ich bin auf dem Venusberg in der Chirurgie,
orthopädische Abteilung, Zimmer 5 gelandet. Mit Wildbad ist
vorerst nichts, weil ich nicht weiß, wo ich schlafen sollte.
Ein Bett wird erst in 2 - 3 Monaten frei. Aber ob ich hier endgültig
bleibe, scheint mir doch sehr zweifelhaft.
Heide hat mich, von Frau Schultz1 ins Bild
gesetzt, besucht und murkst jetzt mit Frau Brown 2 und meiner Mutter an irgendwelchen Finanzquellen und
Beziehungen rum, die mich einerseits nach London, in die von Experten
als bestes Institut für Querschnittsgelähmte in Europa
bezeichnete Klinik oder in eine entsprechende Klinik in Amerika
bringen sollen. Vielleicht auch beides. Meine Mutter wird von den
beiden anderen als Hemmschuh betrachtet, weil sie als einzige
vernünftig auf dem Boden der Tatsachen bleibt und auch die
meiste Erfahrung im Umgang mit (deutschen) Ärzten hat. Sie
wollen von mehreren Professoren ein Gutachten für Dowling. Aber
daß es von deutschen Ärzten fast zu viel verlangt ist,
einen Patienten ins Ausland zu verlegen, weil ja damit eventuell die
eigene Rückständigkeit dokumentiert würde, beachten
diese Phantasten nicht. Ehe meine Mutter Frau Brown überhaupt
hat klarmachen können, daß ich nicht wieder einen
Neurochirurgen gebrauchen kann, der mich nach Mrs. Browns Vorstellung
noch einmal hätte operieren sollen und alles wäre wieder
gut gewesen, sondern daß die einzige Chance, dem Rollstuhl zu
entkommen, nur in einer langen Nachbehandlung liegt, waren Tage
vergangen. Außerdem muß man sehr aufpassen, daß
diese doch eigentlich lenkenden Hinweise nicht als Hemmschuhe
empfunden werden. Es ist ein komisches Gefühl, wenn hinter den
Kulissen über einen selber beschlossen und beraten wird und man
selber so überhaupt keinen Einfluß nehmen kann. Es ist
auch amüsant hintenrum wieder zu erfahren, wie die Klinik, mein
Zimmer und ich auf die einzelnen Besucher gewirkt haben. Zwar nicht
in dem Sinne, daß man aus seiner Wirkung auf andere wieder
Rückschlüsse auf sich selbst ziehen könnte (Proust),
sondern einfach aus objektivem Interesse, ob es andere in dieser
Umgebung ausgehalten hätten, und wie verrückt sie dabei
geworden wären. Der Platz wird knapp, und damit Du nicht noch
mehr entziffern mußt,
Dein
Bernd
Zuletzt geändert: 14.05.2024 16:29:09