Bad Godesberg, den 6.5.62
Lieber Kluti.
Die erste halbe Woche Universität ist vergangen, ich kann Atem
holen, das noch nicht Verdaute wiederkäuen und das für Dich
Interessante aussortieren. Es ist verdammt anstrengend (sehr
subjektiv, weil körperliche Anstrengung mir mehr als anderen
auffällt), sehr schön, Schule ohne deren Nachteile, und es
wird, glaube ich, das ganze „ich“ herausfordern.
Aber schön der Reihe nach, ich habe 20 Wochenstunden
Naturwissenschaften und 3 Stunden Spanisch. Die Naturwissenschaften
gliedern sich in 5 Stunden Experimentalphysik, 5 Stunden
Experimentalchemie, Infinitesimalrechnung und Mathematik für
Naturwissenschaftler mit übungen. Scheinbar nicht so sehr viel,
dennoch bin ich von Montag bis Freitag von 1/2 8 bis 1/2 3 nicht zu Hause. Daher die Anstrengung, noch verstärkt dadurch, daß Chemie überfüllt ist und ich durch meinen
Stundenplan gehindert, mir bis jetzt keinen Platz erkämpfen
konnte. Das soll sich aber ändern, ob durch natürliche
Auslese oder durch einen neuen Hörsaal, war den Andeutungen des
Chemieprofessors nicht zu entnehmen. Warnungen haben wir wirklich
sehr viele bekommen, von 75 Physikern sollen 50% bis zur ersten
Prüfung auf der Strecke bleiben und 15 sollen den Abschluß
schaffen. Dennoch bleiben in den Prüfungen nur 10% hängen,
der Rest verschwindet freiwillig, wenn es ihm zu hoch wird. Klaus1 und
ich haben beschlossen zu den begnadeten 15 zu gehören, können
also nur noch 13 andere durchkommen. Die schlimmsten Unkenrufe hat
aber der Mathematikprofessor von sich gegeben. Spätestens nach
dem 1. Semester soll man einen Schock bekommen, von dem man sich,
wenn überhaupt, erst langsam wieder erholt. Das abstrakte Denken
soll man nicht durchhalten, näheres weiß ich über den
Schock nicht. Ich werde Dir dann aber bei Gelegenheit, wahrscheinlich
sehr bald, darüber berichten. Die Materie selbst war bis jetzt
zu verstehen und sogar fast gänzlich bekannt. Das Tempo ist
enorm. Vergleiche sind schwierig, aber 1 - 2 Wochen Schule pro Stunde
scheinenmir nicht zu hoch gegriffen. Die Ausdrucksform ist gewählt,
wenn auch nicht so wie bei Brach, (vielleicht steckt bei ihm ein
Mangel an Substanz dahinter) etwas schnodderiger, es gibt immer
Leuchttürme, die festzustehen scheinen, aber in den verbindenden
Sätzen fehlen öh‘s und sozusagen‘s und
belebende Vergleiche. Es soll auch Aufgaben geben, wöchentlich,
vielleicht dämpft sich dann meine Begeisterung etwas. Aber die
Atmosphäre ist ganz anders als in der Schule, prickelnde,
gespannteste Aufmerksamkeit - vielleicht kommt es mir nur so vor,
weil ich mich bemühe aufzupassen - vor allen Dingen keine Ritze
hinter oder Inge2 neben einem, die dauernd reden. Der Unterschied ist
frappierend, im Schnitt müßten es doch die gleichen
Menschen sein. Daß es vielleicht das ganze „ich“
herausfordern wird, beflügelt mich am meisten. (Eigentlich
falsch, denn zum „ich“ gehört viel mehr als
intellektuelle Fingerfertigkeit. Ich halte die Aussage trotzdem
aufrecht, weil ich glaube, daß ich intellektuell überfordert
werden werde und wirklich alles werde mobilisieren müssen -
leider oder gottseidank ist das „volo“ ein ziemlicher
Machtfaktor in meinem „ich“ - um es durchzustehen) Damit
wäre einiges andere zweitrangig geworden, hoffentlich bleibt das
eine Weile so. Habe heute Deinen Brief bekommen, war verwundert, daß
Du diesen Mist überhaupt kapiert hast und dann auch noch aus
eigener Erfahrung bestätigen kannst. Sind wir 2 anormale Idioten
oder sehr empfindliche Exemplare, Seismographen der normalen Rasse
Mensch?
Zuletzt geändert: 14.05.2024 16:30:02