Meine Mutter (Elfriede Omenzetter)
Autor: Dieter Otto
Meine Mutter Elfriede Omenzetter
wurde wie ihre Mutter zu Weihnachten geboren, am 25, Dezember des Jahres 1910.
Sie kam in Charkow in der Ukraine zur Welt. Mein Großvater hatte dort eine
Vertretung der amerikanischen Erntemaschinengesellschaft zu leiten, bei der er
ja auch schon in Berlin gearbeitet und durch die er, wie wir bereits wissen,
auch seine Frau kennengelernt hatte. Meine Großeltern wohnten in Charkow in
einer kleinen deutschen Kolonie. Meine junge zarte Großmutter hatte erst vor
knapp einem Jahr ihr Zuhause bei Mutter und Schwester in Berlin verlassen und
fühlte sich so fern von der Heimat in dem fremden, kalten Rußland sehr einsam.
Als dann meine Mutter endlich über ein Jahr alt war, die wärmeren Tage der
Frühlingszeit herannahten und sie auch für solch eine lange und anstrengende
Reise gewappnet erschien, hielt es nieine Großmutter nicht länger in der Fremde
und sie machte sich auf nach Berlin, um ihr Kind den lieben Anverwandten
vorzustellen.
Im Juli des Jahres 1912 kehrte sie dann wieder zurück in das ungeliebte
Charkow, wo sie körperlich und seelisch geschwächt alsbald an Thyphus erkrankte
und, wahrscheinlich durch den Fehler einer Schwester, die verbotenes Essen ins
Zimmer stellte, am 1. Oktober desselbigen Jahres, im blühenden Alter von 22
Jahren verstarb. Sie ist dann auch in Charkow begraben worden.
Meine Mutter, die zum Zeitpunkt des Todes ihrer Mutter noch keine zwei Jahre
alt war, wurde dann sehr schnell von Onkel Willi (den wir ja bereits als
Trauzeugen der Omenzetters kennengelernt haben) nach Berlin zu ihrer Großmutter
und zu ihrer Tante Hedwig Müller in die Caprivistraße geholt.
Warum meine Mutter das Etagenkind genannt wurde
Das Ehepaar Müller hatte
keine eigenen Kinder. Wenn auch Gustav Müller, nach allem was ich weiß, nichts
sehnlicher wünschte. Aber nach alledem, was meine Oma in ihrer schweren Jugend
erlebte, hatte sie offentsichtlich den Mut dazu verloren.
So nahmen sie meine Mutter wie ihr eigenes Kind auf und sie hieß im
Bekanntenkreis, ja selbst später in der Schule fortan Elfriede Müller,
Offiziell hatte sie ihr Vater, obwohl die Müllers das wohl gerne gesehen
hätten, nie zur Adoption freigegeben. Da sie ihren leiblichen Vater erst im
Jahre 1918 nach Kriegsende, also mit fast 8 Jahren zum ersten Mal bewußt zu
sehen bekam (als "Kriegsgegner" durfte er ja Charkow nicht verlassen
!), wurde sie praktisch wie eine Vollwaise behandelt, naturgemäß entsprechend
bedauert - aber natürlich von allen und jedem entsprechend verwöhnt.
Zu ihrer eigentlichen Tante hat sie zeitlebens immer "Mutter" gesagt.
Ganz im Gegensatz zu Werner, der ja auch schon sehr früh beide Eltern verlor
(seine Mutter starb als er 2 Jahre alt war, sein Vater nur 2 Jahre später,
beide an Schwindsucht) und der nach dem Tod von Urgroßmutter Scheel auch von
den Müllers aufgenommen wurde. { in diesem Falle wurde G.A. Müller sein
gesetzlicher Vormund ). Er hat zeitlebens "Tante" zur Schwester
seines Vaters gesagt. Aber nur Tante, das fand ich als Kind immer etwas
komisch.
Müllers wohnten damals, wie wir bereits wissen, im ersten Stock der Caprivi-straße
Nr.6 über der Drogerie Wolffram. Die Nachbarn von Müllers waren das
Schraubenfabrikanten - Ehepaar Eugen und Ella Herzog, die auch keine Kinder
hatten, nur einen Hund namens Dina. Zwei liebenswerte, schrullige Menschen, die
ich auch noch in guter Erinnerung habe, selbst die Stimme von Onkel Eugen habe
ich noch im Ohr!
Als armes, Mitleid erregendes Nachbarkind hatte meine Mutter alsbald auch die
ungeteilte Sympathie der Herzogs gewonnen, so daß sie fortwährend von Wohnung
zu Wohnung pendelte und im Hause deshalb das "Etagenkind" genannt
wurde. Die bis dato rein nachbarlichen Beziehungen zum Ehepaar Herzog und der
Schwiegermutter Frau Hase entwickelten sich recht schnell zu einer innigen
Freundschaft, als im Jahre 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach und auch Gustav
Müller seinen Vertreteranzug mit dem Feldgrau der Infanterie tauschen mußte.
Eugen Herzog hingegen hatte es offensichtlich verstanden, seine
Schraubenproduktion als kriegswichtigen patriotischen Beitrag einstufen zu
lassen - er jedenfalls konnte zu Hause bleiben und sah es fortan als seine
vornehmste Pflicht an, sich intensiv um die verwaisten Damen ( Großmutter,
Mutter, Kind ) des Nachbarn Müller zu kümmern.
Eine Aufgabe, die ihm bestimmt nicht schwer gefallen ist, wenn ich mir so die Bilder
meiner ausgesprochen hübschen Oma Müller betrachte. Nun, wie wir später noch
sehen werden, ist daraus eine wirklich intensive und bis ans Lebensende
reichende Freundschaft gewachsen.
Und dann waren da noch die Familien Trilling mit den Töchtern Trude und
Liesbeth im 2. Stock (Gertrud Trilling, später mit einem Herrn Dumke
verheiratet, war die Mutter meiner späteren Jugendfreundin Sigrid) und die rund
10 Jahre ältere Gertrud Mylius aus dem 4. Stock.
Auch diese Mädels mögen wohl zunächst so etwas wie Muttergefühle für das arme
verwaiste Kind aus dem fernen. Rußland empfunden haben - dann aber, so glaube
ich, ist diese Einstellung mehr und mehr einer durchaus etwas * neidvollen
Bewunderung gewichen. Denn, das steht fest, meine Mutter war nach allem was ich
so später von ihr über diese Zeit vernommen habe, immer der absolute
Mittelpunkt des alltäglichen Geschehens im Hause Caprivistraße 6.
Und wenn sie es einmal nicht war, was auch vorgekommen sein soll, dann wußte
sie aber auch diesen Zustand schnell wieder zu verändern. So hat sie sich zum
Beispiel, um sich wieder in Erinnerung zu bringen, einmal einen Teil ihrer
Haare abgeschnitten - und schon stand sie wieder im Mittelpunkt des Geschehens.
Und das blieb, von wenigen Zeiträumen ausgenommen, ihr ganzes Leben lang so,
mit gewissen Einschränkungen bis auf den heutigen Tag!
Warum Schokolade als Notenersatz diente
Bereits im zarten Alter von
4 Jahren erfreute meine Mutter ihre Umwelt mit ihrem freien, sich selbst
angeeignetem Klavierspiel.
Es kam vor, daß sie zum Beispiel flach auf dem Fußboden lag um der Musik zu
lauschen, die aus der Parterrwohnung des Drogisten heraufklang, so zum Beispiel
auf der Hochzeit des neuen Drogerieinhabers Henkel, den ich ja auch noch kannte
und dessen Enkelsohn im Posaunenchor der Zwingligemeinde die Zugposaune
spielte.
Einen geregelten Klavierunterricht bekam meine Mutter erst mit 8 Jahren.
Zunächst bei dem Fräulein Bornhöft, die ich dann später auch noch kennenlernte
und die sich bis zu ihrem Tode immer sehr unserer Familie verbunden fühlte,
Später dann, so mit 17 Jahren wechselte sie den Lehrer und ließ sich von dem
Leiter des Logenchores, einem gewissen Herrn Borz, einem etwas
"verunglückten" Opernkomponisten, der sich mit Klavierunterricht den
Lebensunterhalt verdiente, unterrichten. Herr Borz pflegte gewöhnlich nach dem
offiziellen klassischen Unterricht die Noten zuzuschlagen mit den Worten:
"... und nun Müllerchen spielen sie uns noch ein paar flotte Takte, so wie
sie es gewöhnt sind.''
Ihre außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten führt meine Mutter auf eine
Erbanlage ihres Großvaters zurück, der, eigentlich Schuhmacher von Beruf, sich
seinen Lebensunterhalt aber vorwiegend als geigender Wandermusiker, der mit
viel Erfolg durch die Lande gezogen sein soll, verdient hat. Seine ihm
nachgesagte urwüchsige Musikalität sieht sie in sich vererbt.
Manchmal nahm sie ihr Pflegevater Gustav Müller, der sich inzwischen
selbständig gemacht hatte, mit über's Land zu den Bauern, denen er seine Erntemaschinen
verkaufen wollte. Dann spielte meine Mutter zum Ergötzen der Landwirte und
sonstigen Dorfbevölkerung auf den klapprigen Klavieren der Dorfschenken, so zum
Beispiel im Oderbruch in Sietzing, wo sie so nebenbei auch das Radfahren
erlernte. (Ich erwähne das nur deshalb, weil ich just im gleichen Ort später
ebenfalls zum ersten Mal auf einem Fahrrad saß).
Wenn sie dann mal keine Lust mehr zum Spielen hatte und sich damit
entschuldigen wollte, daß sie ja keine Noten mithabe, legte man ihr einfach eine
Tafel Schokolade auf das Notenbrett und fragte, ob sie nach diesen
"Noten" nicht auch spielen könnte. Vielleicht macht sie sich heute
deshalb nichts mehr aus Schokolade.
Müllers hatten übrigens auch einen Hund, einen großen respekteinflößenden
Boxer, namens "Lumpi". Der Name paßt eher zu einem etwas
tollpatschigen gutmütigen Hundevieh - aber abgesehen von seinem Verhalten
meiner Mutter gegenüber, soll er gar nicht so friedlich gewesen sein. Als die
Müllers eines Tages abends mal vergessen hatten die Korridortür zu schließen,
hat er sich einfach draußen auf dem Treppenpodest davor gesetzt und niemand
vorbeigelassen.
Erst durch einen entsprechenden Anruf des im Erdgeschoß befindlichen Drogisten,
der den verzweifelten Hausbewohnern, die nun nicht in ihre Wohnungen kamen zu
Hilfe kam, wurde Opa Müller auf diesen Umstand aufmerksam gemacht.
Von meiner Mutter jedoch ließ Lumpi sich so gut wie alles gefallen. Sie soll
ihn immer von herzenslust ins Ohr gebissen haben und die Onkels, wenn sie denn
mal wieder auf Besuch waren um nach Klein - "Fielen" zu sehen,
machten sich den Spaß Klein - Elfriedchen in einen Waschkorb zu setzen und von Lumpi
mit wachsender Begeisterung durch die ganze Wohnung ziehen zu lassen.
Warum sich alle gern an Weihnachten erinnern
Gustav Adolf Müller, der ja
bekanntlich von der ersten Stunde der Bekanntschaft mit seiner Frau immer ein
volles Haus hatte, wenn ich nur an die vielen Kinder seiner Schwiegermutter
denke, muß ein Urgemüt besessen haben, darob ich ihn nur bewundern kann. Selbst
als nun endlich alle seine Schwäger und Schwägerinnen aus dem Hause waren blieb
es dabei, daß sich zu besonderen Anlässen wie Schwiegermutters Geburtstag oder
Weihnachten Jahr für Jahr die ganze Verwandtschaft, die ja nun durch
Verheiratung und Kinderkriegen noch um ein Beträchtliches vergrößert hatte, bei
den Müllers einfand um frohe Feste zu begehen. Ich glaube schon, daß die
Rückbesinnung an diese herrlichen Feste und die damit verbundene Gemeinschaft
mit ihren vielen Cousins und Cousinen heute noch zu den schönsten Erinnerungen
meiner Mutter gehört. In diesem Zusammenhang kann ich nachträglich meinen armen
Vater nur bedauern, der auf solch schöne Jugendzeit aus welchen Gründen auch
immer, verzichten mußte,
Meine Oma Müller, die wie wir ja inzwischen wissen nicht nur hervorragend
zu schneidern verstand, sondern auch als bewundernswerte Köchin eine exzellente
Gastgeberin war (auf ihre besonderen Kochkünste besonders in der schweren
Nachkriegszeit komme ich dann in meinen eigenen Erinnerungen bestimmt noch
einmal zurück) hatte noch eine dritte, auch nicht zu unterschätzende Gabe - sie
konnte hervorragend dichten.
Und dank dieser Fähigkeit sind wir noch heute in der Lage, trotz damals noch
fehlender Tonband - und Videotechnik uns ein durchaus plastisches Bild von
einem dieser wirklich zu Herzen gehenden Familienfeste machen zu können.
Es war wie gesagt nun schon viel jährige Tradition, daß sich zum 1.
Weihnachtsfeiertag, zum Geburtstag meiner Mutter, alle Onkel und Tanten nebst
ihrer Kinder und nicht zu vergessen die Nachbarn Herzog (mit Hund natürlich)
bei den Müllers trafen und aus diesem Anlaß meine Oma Müller den Weihnachtsmann
spielte, der mit neckischen Versen nicht nur seine zum Teil selbst verfertigten
bescheidenen Präsente sondern eben auch manch gutgemeinten Rat verteilte.
Ich bin überglücklich, daß von den unzähligen Gedichten dieser Art, an die ich
mich zum Teil noch recht gut erinnern kann, wenigstens eines, wenn auch leider
als Fragment, erhalten blieb. Es stammt aus dem Jahre 1924. Es ist also immer
noch Nachkriegssituation, meine Mutter feiert ihren 14. Geburtstag, in einem
3/4 Jahr wird sie konfirmiert, in nicht mal ganz einem Jahr trifft sie, wie wir
bereits wissen auf ihren zukünftigen Ehemann, das letzte Weihnachtsfest also
ohne Georg Otto!
Wir wollen uns jetzt erst einmal in die zauberhafte Weihnachtsstimmung dieser
Runde hineinversetzen lassen und die Verse lesen - dann will ich noch etwas zum
besseren Verständnis über die beteiligten Personen sagen.
Weihnachten 1924 im Hause Caprivästraße Nr.6 Gedicht des Weihnachtsmannes (Hedwig Müller)
Schon' guten .Abend ihr
lieben Gäste.
Seid herzlichst gegrüßt zu dem schönsten der Feste.
Wie lange schon habe ich mich gefreut,
auf dieses Wiedersehen heut'.
Und als ich nun ging hier die Straße entlang
und hörte hier oben den Festgesang
und sah durch die Scheiben des Christbaums Geflimmer,
da dacht' ich mir gleich - aha, wie immer
begeht man dort das Fest der Liebe
und den Geburtstag der Elfriede.
Uno flugs im allerschnellsten Lauf,
kam ich zu euch die Treppe rauf.
Ihr glaubt ja kaum, wie sehr's mich freut,
daß ihr so nett beisammen seid.
Ich bab' so oft an euch gedacht,
hab' jedem etwas mitgebracht.
Ich dacht' an all die lieben Namen,
die festlich hier zusammenkamen:
Zuerst ist mal die Omama
mit Erich und dem Werner da,
das blonde Ilschen aus Schönweide
und ihre lieben Eltern beide,
der Herr Motorbootkapitän
und aus Neukölln Familie Böhm.
Die Herzogin von nebenan,
mit Eugen ihrem lieben Mann
und aus Neukölln der dicke John
mit seinem Weibchen und dem Sohn.
Und nicht zuletzt Frau Hase klein,
auch stellte sich der Otto ein.
Jedoch da hätt' ich unterdessen,
bald das Geburtstagskind vergessen.
Na komm mal etwas näher ran,
zu Deinem alten Weihnachtsmann.
Sieh' diese schönen langen Strümpfe,
die bring' ich Dir voll guter Wünsche,
und recht viel Glück und recht viel Segen,
hab' stets auf allen deinen Wegen.
Mußt immer brav und fleißig sein,
dann bist' des Hauses Sonnenschein.
Jedoch jetzt müßten wohl die Kleinen
zuerst mal beten, sollt ich meinen.
Zum Anfang Ilschen aus Schönweide,
denn die, die macht mir immer Freude.
Dann das Geburtstagskindchen da
und auch dein Werner Omama.
Auch würde es mich garnicht stören,
könnt ich vom Kurt mal etwas hören. -
Das war wie immer
wunderschön,
doch jetzt wollen wir mal seh'n,
ob sich auch für jedes Kind,
etwas hier im Sacke find' .
Dies ist für Ilschen klein,
dieses für den Werner mein.
Hier ein Hund, der bellt und knurrt,
für den lieben guten Kurt.
Und für all die lieben Damen,
welche heut zum Feste kamen,
bring' ich allerliebste Sachen,
die ihnen sicher Freude machen.
Erstmal kriegt Frau Haseklein
ein dickes Schokoladenschwein.
Die verehrte Mutter Anne,
eine Haube für die Kanne.
Frida Scheel und Frida Böhm,
bring' ich Würste fett und schön.
Denn es tut mir schrecklich leid,
daß ihr beid' so "elend" seid.
Kinder sagt, wo soll das hin,
wenn ihr weiter werd' so dünn,
dauert's wirklich nicht mehr lange
geht ihr beid' als Hopfenstange.
Nun, ihr müßt euch besser pflegen,
müßt mehr Wert auf's Essen legen.
Dann ist sicher Euch beschieden,
so an Stellen, ganz verschieden,
eine schöne sanfte Rundung
und auch dauernde Gesundung.
Ach,es stellt sich manche
Pein,
bei uns mit dem AIter ein.
Dem fehlt dies und den fehlt das
und so hat ein jeder was.
Auch der liebe gute John
klagte mir seit langem schon,
daß ihn quälte g'rade dies',
was sich nicht so sagen ließ.
Und es wollen Tee und Pillen,
garnicht ihren Zweck erfüllen.
Darum hoff ich, diese Spritze,
ist für dich von großer Nütze.
Herzogs haben einen Hund,
vorne spitz und hinten rund.
Und was ganz besonders wichtig,
es ist ein Fräulein, keusch und züchtig.
Und es haben Herzogs beide
an dem Hündchen ihre Freude.
Aber ach, das arme Tier,
lebt so hin, ganz ohn' Pläsier.
Immer nur an fester Leine,
mit den Eltern - nie alleine,
kann man Fräulein Dina seh'n
auf der Straß' spazieren geh'n.
Ach sie möcht' so gerne haben
einen lieben Kameraden,
einer Freund in Leid und Schmerz,
etwas liebes für ihr Herz.
Doch die strengen Eltern beide,
gönnen ihr nicht diese Freude.
Doch nun enden soll die Pein,
dies' soll ihr Gespiele sein.
Auch die Ella freut sich schon,
auf den lieber. Schwiegersohn.
Seht einmal dies kleine Biest,
find' ihr das nicht allerliebst.
Ja, die Kreuzung ist nicht ohne,
zwischen Schweinchen und Zitrone.
Und ich hab' es hergebracht,
hab' dem Karl es zugedacht.
Ist es auch man winzig klein,
Hauptsach' bleibt, der Mensch hat Schwein!
Lieber Eugen, hör' mich an:
ich, der alte Weihnachtsmann,
geb' Dir heute einen Rat,
der sehr gut ist, in der Tat.
Damit deine Jugendkraft,
nicht verdorrt und nicht erschlafft,
und sich Muskeln und auch Sehnen,
immer stets von Neuem stählen,
mußt du morgens in der Früh',
gleicn nach der Verschön'rungsmüh',
hier mit diesen Dingen müllern,
feste bis die Backen schillern.
Glaube mir, du alter Knabe,
das dir diese selt'ne Gabe,
wird von großem Nutzen sein
und mich würd' es sehr erfreu'n!
Es gibt viele hundert Sorten
von Kakteen, wie ihr wißt.
Aber g'rade diese Sorte
etwas ganz besond'res ist.
Nicht allein die schöne Farbe,
oder die apparte Form,
nein die Heilkraft dieser Pflanze,
die ist wirklich ganz enorm:
Ist man abends aus gewesen,
hat 'nen .Affen mitgebracht,
hat ein Stück von diesem Kaktus
alles wieder gutgemacht.
Leider gab's von dieser Ware,
nur die beiden Exemplare,
und die beiden Zwillingsknaben
sollen diese Dinger haben.
Omenzetter wünscht sich
heiß,
so ein Häubchen zart und weiß.
Denn er meint, es wär' ein Segen,
tät er sich zu Bette legen,
brächt er seine "Lockenfülle",
unter diese weiße Hülle.
Bitte tu' sie gleich probieren,
daß die Damen kritisieren,
denn ich glaube, wunderschön
wird dir diese Haube steh'n.
Für den Heimi hab' ich hier
eine Flasch' Lavendel,
denn er tut in einem fort,
mit dem Tanzbein pendeln.
Manchmal wird ihm, wie bekannt,
von dem Dreh'n ganz plümerant.
Darum wird es ihn erfrischen,
Wenn er ab und zu inzwischen,
in des Tanzes höchster Wut,
sich die Stirn befeuchten tut.
Fräulein Martha und Frau Ernchen,
kriegen schön geback'ne Hörnchen,
zart bestreut mit etwas Mohn
Nun also folgende
Bemerkungen zu den versammelten Personen:
"Zuerst ist mal die Omama
mit Erich und dem Werner da"
Meine Urgroßmutter Anna Scheel hatte sich des kleinen Werner Scheel angenommen, der damals noch nicht
einmal 4 Jahre alt war und vor einem Jahr bereits seine Mutter Gertrud verloren
hatte. Sie war in der Lungenheilanstalt in Lychen, wo sie auch begraben liegt,
an Schwindsucht gestorben. Sein Vater Ernst Scheel, mein Großonkel, muß zu
dieser Zeit auch schon zu krank gewesen sein um auch an der Weihnachtsfeier
teilnehmen zu können. Urgroßmutter wohnte zu dieser Zeit bei den Scheels in der
Lüneburger Straße in Moabit, eine Querstraße von der Werftstraße entfernt, in
der mein Vater geboren wurde. Ob Erich, der Zwillingsbruder von Onkel Paul auch
dort wohnte, oder allein woanders und an diesen Abend nur zusammen mil
Urgroßmutter und Werner in die Caprivistraße gekommen war, ist nicht bekannt.
Jedenfalls war er zu dieser Zeit offensichtlich noch nicht verheiratet.
"das blonde Ilschen
aus Schöneweide und ihre lieben Eltern beide"
Gemeint ist Ilse Scheel, später verheiratet mit Kurt Schmalz, die Tochter aus erster Ehe von Paul und
Erna Scheel. Nachdem ihn seine Frau mit dem Nachbarn betrogen hatte, ließ Onkel
Paul sich scheiden und heiratete seine zweite Frau Lucie, an die ich mich auch
noch gut erinnern kann. Sie ist in dem heute nicht mehr existierenden Altenheim
in Treptow an der Eisenstraße verstorben.
"der Herr
Motorbootkapitän und aus Neukölln Familie Böhm"
Der Herr Motorbootkapitän ist natürlich Omas Mann Gustav Müller, von dem wir bereits hörten, daß er ein
stolzes Motorboot auf dem Rummelsburger See sein Eigen nannte. Die Familie Böhm
aus Neukölln ist Frida, die älteste Schwester von Oma, die eine
Schneiderwerkstatt hatte und mit Karl Böhm verheiratet war. Onkel Karl, der
wohl zeitlebens Alkoholprobleme hatte, ist dann nach dem Tod seiner Frau allein
nicht mehr zurechtgekommen und hat sich auf dem Friedhof, wo seine Mutter
begraben war, erhängt.
Zur Familie gehörte auch noch der Sohn Heinz Böhm, von dem später noch speziell
die Rede ist ("Heini"), Heinz Böhm war unzweifelhaft der Lieblingscousin
meiner Mutter, weil er - wie wir ja auch fast am Ende des Gedichtes hörten - so
ein toller Tänzer war. Mit Edith, seiner späteren hübschen blonden Frau, die er
beim Tanzen in dem großen Etablissement am Friedrichshagener Spreetunnel, von
dem heute nur noch ein paar Mauerreste stehen, kennengelernt hatte, war er mal
kurz nach unserer Hochzeitsreise zu Besuch,
"Die Herzogin von nebenan, mit Eugen ihrem lieben Mann"
Das Schraubenfabrikantenehepaar Herzog ist uns schon bekannt. Sie war eine kleine
unscheinbare, etwas bucklige Person - er hingegen stattlich von Statur, immer
hinter den Frauen her. Meine Oma hat ihm dann am Ende des Gedichtes einen
besonderen Vers gewidmet, der mit vorsichtigen Andeutungen auf diese von mir
geschilderte Situation hinweist.
Nachdem das Haus in der Caprivistraße wie bereits geschildert ein Opfer der
Nachkriegshandlungen wurde und die Herzogs ihre schöne Wohnung mit der von mir
als Kind immer bewunderten Ledergarnitur verloren, sind sie nach Grünau in ein
erbärmliches Untermietsquartier gezogen. Mir wird heute noch übel, wenn ich an
die dreckigen Teller denke, von denen ich mal Kuchen essen mußte, als wir sie
dort nach dem Kriege besuchten.
"und aus Neukölln der dicke John mit seinem Weibchen und dem Sohn"
Der "dicke John" ist Johannes, Onkel Hans, von dem ich gar nicht wußte, daß er mal so dick
gewesen sein soll. Ich kenne ihn nur als ausgesprochen schlanken Menschen. Kurz
vor seinem Tod habe ich ihn noch einmal in Düsseldorf besucht, wo er auch in
einem Altenheim lebte.
Die Nachkriegszeit hatte ihn zunächst nach Thüringen verschlagen und ich werde
nie vergessen, daß er dann später, als er wieder in der Nähe von Berlin wohnte
und uns des öfteren besuchte, immer und immer wieder, wenn er leicht
angetrunken war, eine Story aus eben jener Thüringer Zeit zum Besten gab, wo er
bei einem drohenden Hochwasser ein Mühlenwehr schloß.
Dann fuchtelte er ganz besessen von der Erinnerung daran mit den Armen in der
Luft herum, daß alle die ihm zuhörten vor Lachen keine Luft mehr bekamen.
Immer, wenn er dann mal wieder kam, forderten wir Kinder ihn auf, uns doch noch
einmal die Geschichte von dem Hochwasser zu erzählen.
Sein Weibchen war damals die Tante Frida, die wie wir noch später im Gedicht
hörten nun wirklich sehr dick gewesen sein muß. Außerdem litt sie an
Bluthochdruck und ist dann auch sehr bald einem Herzinfarkt erlegen. Onkel Hans
heiratete später seine zweite Frau Mia, die ich dann auch noch kennen lernte.
Der Sohn der beiden ist Kurt, von dem auch noch später im Gedicht die Rede ist.
Auch ihn und seine Frau Erika habe ich damals in Düsseldorf besucht. Durch
seine Mutter erblich belastet, ist auch Kurt in jungen Jahren an Bluthochdruck
gestorben.
Nun "Frau Hase klein" war die Mutter von Frau Herzog und "der
Otto" war natürlich Otto Omenzetter, mein Großvater, der damals auch
gerade in Berlin weilte. Das könnte die Zeit gewesen sein, wo er in der
Hohenlohestraße (heute Modersohnstraße) zur Untermiete wohnte und im Bett
Vokabeln lernte, wir haben ja bereits davon gehört.
Eine Familie, die ansonsten bei solchen festlichen Anlässen immer dabei waren,
fehlt diesesmal in der trauten Runde, nämlich Uromas Lieblingssohn Willi, der
Friseurmeister aus Neukölln mit Frau Erna und Tochter Ursel, meine spätere
Patentante. Warum? - wer will das heute noch wissen.
Und so ging das Jahr um Jahr, auch später noch als die Müllers dann am Rudolfplatz
wohnten und nach dem Tod von Opa Müller als ich so klein war und all die Jahre
im Krieg bis wir nach Oderberg zogen, immer sind wir am Heiligen Abend nach
unserer internen Bescherung "nach unten" in die Wohnung meiner Oma
zur großen Weihnachtsfeier gezogen.
Nach dem Krieg, als das dann nicht mehr möglich war, weil in der Müllerschen
Wohnung natürlich auch ausgebomte Untermieter wohnten, sind wir trotzdem zur
Weihnachtsfeier "nach unten" gezogen, aber diesmal nur ein Stockwerk
tiefer zu Werner Scheel, der dort mit seiner Frau Elsbeth, der Tochter des
ehemaligen Wohnungsbesitzers Böhlau, wohnte,
Warum mein Vater wie Adolf Wohlbrück aussah
Kehren wir zurück in das
Jahr 1925, Wie wir bereits wissen, wurde meine Mutter in diesem Jahr
konfirmiert - aber nicht von Pfarrer Lehmpfuhl in der Zwinglikirche, sondern
von Pfarrer Habicht in St. Petri. ''
Pfarrer Habicht war, wie wir auch schon hörten "Meister vom Stuhle"
an der ehrwürdigen Johannesloge und Gustav Müller ebenfalls eingetragener
Bruder dieser Loge. Eines Tages weilte der würdige Meister zu Besuch bei seinem
Logenbruder und da kam auch das Gespräch auf den Konfirmandenunterricht des
Pfarrers Lehmpfuhl und meine Mutter beklagte sich über die fortwährenden
Gängeleien des Pfarrers über ihre "moderne" Frisur. Sie trug einen
frechen, zeitgemäßen Bubikopf und eben nicht die von Pfarrer Lehmpfuhl so
offensichtlich favorisierten züchtigen deutschen Zöpfe. Pfarrer Habicht mißfiel
die gestrenge unchristliche Art seines Amtsbruders und er nahm meine Mutter unter
seine Fittiche, erteilte ihr Privatunterricht und segnete sie am 13. (oder
25.?) September 1925 in seiner Petrikirche ein. Aber nicht nur das - er empfahl
auch seinem Logenbruder, sein aufgewecktes musikalisches Töchterchen mal zu den
Chorproben des Logenchores mitzubringen. Und so kam es, wie wir nun auch
bereits wissen, daß an jenem bewußten Abend in der Vorweihnachtszeit des Jahres
1925 im Logenhaus in der Splittgerbergasse meine Mutter mit ihrem Ziehvater an
dem Tische des ehrwürdigen "Meisters vom Stuhle" saß und das Mißfallen
meines Vaters erregte.
Der war ihr auch gleich aufgefallen, denn es war ihr nicht entgangen, daß er
sich über die vorgefundene Situation mokierte. Meine Mutter fand ihn äußerst
arrogant, wie er, ansonsten eine ungemein stattliche Erscheinung, die sie an
den bekannten Schauspieler Adolf Wohlbrück erinnerte, die Zigarette in einer
silbernen Spitze lässig im Mundwinkel führend, in erhabener Positur
gemächlichen Schrittes die breite Treppe hinunterschritt und sie und ihren
Vater keines Blickes würdigte und mit entsprechender Mißachtung zu strafen
versuchte.
Ihr war natürlich auch nicht entgangen, daß nach ihrem uns schon bekannten
Auftritt am Klavier, das Interesse meines Vaters sich schnell zu wandeln
begann.
Auch ihre anfängliche Abneigung diesem um über 27 Jahre älteren Manne gegenüber
muß sich offensichtlich sehr schnell gelegt haben, wenn wir nur an die
zärtliche Begegnung ein paar Wochen danach im Festsaal denken, oder uns die
vielen Bilder aus der Zeit nur neun Monate später in Bad Reinerz anschauen.
Was meine Mutter an meinem Vater schließlich so fasziniert hat, daß sie sieben
lange Jahre bis zu ihrer Vermählung offensichtlich kein Blick für einen anderen
Mann hatte ( obwohl meine Oma in dieser Hinsicht nichts unversucht gelassen
hat, wie wir wissen ) wird sie mir als seinen Sohn wohl nie so richtig erklären
können, Bei allem was da eventuell positiv über meinen Vater in die Waagschale
zu werfen wäre, wage ich heute, da ich meine Mutter nun über eine lange
Lebensstrecke begleitet habe, eine vielleicht gewagte aber für mich durchaus
erklärbare Lösung dieser Frage.
Was nun, wenn sich diese "Zuneigung" zu meinem Vater, durch die im
Leben meiner Mutter immer wieder so intensiv zur Schau gestellte gewisse
Geltungsbedürftigkeit und das Bestreben immer irgendwie im Mittelpunkt des
Geschehens zu stehen, erklären ließe?
Wie wir schon mehrfach hörten hat sie ja durch die Tragik ihrer Kindheit -aber
dann eben auch durch die ihr dadurch bedingte ungeteilte Zuneigung ' immer
irgendwie im Mittelpunkt gestanden und ganz anders als bei einer
"normalen" Beziehung war das Verhältnis zwischen dem 42 jährigen
Georg Otto und der kleinen Konfirmandin Friedel Müller dazu wie geschaffen.
Um vielleicht der ganzen Wahrheit die Ehre zu geben darf man dabei allerdings
auch nicht unerwähnt lassen, daß mein Vater bei der Jugend sehr beliebt war.
Von ihm muß in dieser Beziehung eine mir später nicht so recht erfaßbare
Faszination ausgegangen sein - denn ich weiß zum Beispiel von Werner Scheel,
für den er ja so eine Art Vaterersatz darstellte, daß er ihn nicht nur sehr
gemocht sondern ausgesprochen verehrt hat. Und selbst später mein Freund
Gerhard Kuhnert, der ja in ähnlicher Situation war, schwärmt noch heute von
ihm.
Fritz Marczinowski, der Bruder von Hilde, der in so jungen Jahren an der
russischen Front sein Leben lassen mußte, ist immer gerne nach Berlin zu seinem
Onkel gekommen.
Und natürlich auch mein anderer Cousin Hans-Jürgen Otto, von dessen Memoiren
wir schon in dem Kapitel zuvor einige Kostproben lesen konnten, war von seinem
Onkel Georg begeistert, wenn er in seinem Buch "Rememhered and Retold"
auf Seite 28 schreibt: «.
"... Onkel Georg
belebte jedwede Unterhaltung durch seine endlosen spaßigen Geschichten. Wir
Kinder liebten seine humorvollen Berichte über die Dinge, die da so auf seiner
Dienststelle passierten oder seine spaßigen Kommentare zur gegenwärtigen
politischen Situation, Er war eben ein echter Berliner!"
Ich vermerkte schon in dem Abschnitt davor, mir gegenüber hat sich mein Vater offensichtlich so nie dargestellt.
Warum Opa Müller schon meine Familie plante
Es drängt mich, da ich nun
schon mal so beim allgemeinen philosophieren bin, noch ein ganz anderes Thema
aufzugreifen, was mich von Zeit zu Zeit so fasziniert.
Das ist die Frage nach dem persönlichen "Ich"! Ich weiß nicht, ob für
andere diese Frage auch so relevant ist. Ich jedenfalls stelle mir oft die
Frage warum ich so bin, wie ich bin - oder auch anders sinniere ich oft
darüber, welche spezifischen Fakten zu meinem "Sein", was nun mal so
ist, wie es ist (und nicht anders) geführt haben.
Also mal konkret für denjenigen, der mich nicht so richtig versteht: daß ich
bin, wer ich bin - also Sohn des Georg Otto und seiner Ehefrau Elfriede und daß
ich bin, wie ich bin, das heißt mit all den mir vererbten
Charaktereigenschaften, hat seinen Ursprung in ganz konkreten, meß- und
definierbaren Fakten, in dem geplanten oder zufälligen Aufeinandertreffen
zweier bis dahin völlig frei und unabhängig von einander sich entwickelnden Lebepsimpulsen.
In meinem Fall war das (und ich glaube, daß ich dieses bis jetzt auch
einleuchtend dargestellt habe) das schicksalhafte Aufeinandertreffen meiner
Eltern in der Vorweinachtszeit 1925 - also bereits 8 Jahre vor meiner Geburt.
Das mag, gemessen an den Schicksalen anderer schon eine beachtliche
Zeitdifferenz sein.
Aber nun möchte ich über etwas berichten, daß im Vergleich dazu offensichtlich
alle mir bis dahin bekannten Situationen in den Schatten stellt. Es geht
schlicht und einfach um die Daseinsfrage meiner Kinder. Für sie, für ihre
spezifische Daseinsfrage, will sagen, daß sie Kinder des Dieter Otto und seiner
Ehefrau Helga Mottern sind, hat sich die entscheidende Weichenstellung bereits
schon 32 bzw. 39 (!) Jahre vor ihrer Geburt vollzogen.
Und das kam so:
Es muß im Jahre 1929 gewesen
sein als Gustav Müller seine bei ihm angestellte Tochter Elfriede (natürlich
zusammen mit dem keinen Schritt von ihr weichenden Georg Otto) mit dem Auto mit
nach Oderberg nahm um dort einem Geschäftspartner von ihm, dem Schlossermeister
und Betreiber der "Oderberger Maschinenfabrik" Paul Wedeil einen
Besuch abzustatten.
Den Nachmittag verbrachte man sehr gemütlich im "Goldenen Löwen" am
Marktplatz und Paul Wedeil hatte seine 18 - jährige Tochter Elsbeth mitgebrach,
ein sehr aufgewecktes Mädchen, das nicht nur forsch den väterlichen
Lastkraftwagen durch die Gegend fuhr, sondern auch das erste und bis dahin einzigste
Taxiunternehmen in dem kleinen Städtchen an der alten Oder betrieb. Meine
Mutter muß vor so viel Unternehmungsgeist nahezu überwältigt gewesen sein, was
aber nicht störte, daß sich von da ab eine langjährige Freundschaft zwischen
den Beiden entwickelte.
Ich möchte aber dieses Thema nicht so schnell verlassen. Es reizt mich schon
ungemein, mir diese Situation im "Goldenen Löwen" vorzustellen - da
sitzt mein Vater dieser unternehmungslustigen quirligen 18 - jährigen gegenüber
und weiß nicht, daß es die zukünftige Schwiegermutter seiner noch ungeborenen
Kinder, die Großmutter seiner künftigen Enkelkinder ist - in 32 bzw 39 Jahren!
Ist dieser Gedanke nicht irgendwie faszinierend? Wenn Gustav A. Müller an
diesem Tage nicht den Entschluß gefaßt hätte, mit seiner Tochter zu seinem
Kunden nach Oderberg zu fahren, wären Christian, Jens und Ulrike vielleicht
auch auf der Welt - aber sie wären eben ein anderer Christian, ein anderer Jens
und eine andere Ulrike!
Wedells Tochter kam dann natürlich auch des öfteren nach Berlin, was meine Oma
Müller gar nicht so gerne sah, denn das Fräulein Elsbeth nahm es offensichtlich
mit ihren Männerbekanntschaften nicht so genau. Das legte sich dann aber wohl,
als sich ein junger Zahnarzt namens Mattern in Oderberg niederließ, (Später hat
meine Oma die vordem etwas abweisende Haltung gegenüber Elsbeth Wedell wieder
dadurch gutgemacht, daß sie, als die Matterns später nach Hennigsdorf zogen und
dort wirtschaftlich schwer zu kämpfen hatten, extra bis dort fuhr um sich von
Walter Mattern behandeln zu lassen)
Nach der Hochzeit meiner Eltern hatten sich die Freundinnen etwas aus den Augen
verloren. Elsbeth Wedell war zu diesem Zeitpunkt noch nicht verheiratet. Doch
als im Januar oder Februar des Jahres 1933 Gustav Müller mal wieder von einer
Dienstfahrt aus Oderberg zurückkehrte sagte er zu meiner Mutter: "Ich soll
dich übrigens schön grüßen von Elsbeth Mattern und Helga'"
Warum Opa Müller die Möbelträger sparte
A propo Hochzeit meiner Eltern. - Die wurde auf den 20. Oktober 1932 festgesetzt. Zu dieser Zeit bot
sich nämlich die günstige Gelegenheit, daß ganz in unmittelbarer Nähe der
Müllerschen Wohnung, gleich um die Ecke am Rudolfplatz Nr. 5 zur gleichen Zeit
2 Wohnungen im Vorderhaus frei wurden. Zum einen hatte Gustav Müller immer
schon den geheimen Wunsch mit Wohnung und Büro in einem an den
repräsentativeren Rudolfplatz zu ziehen und wenn nun noch die neue Familie Otto
ebenfalls im gleichen Hause Quartier bezog und somit ihr
"Sonnenschein" Elfriede nicht in alzu weite Ferne rückte, konnten
doch alle zufrieden sein.
So ergab es sich dann nun, daß mein Vater die 3- Zimmerwohnng im dritten Stock
auf Hochglanz bringen ließ. Im großen Balkonzimmer, mit tiefroter( und goldenen
Verzierungen versehenen Tapete ausgestattet, brachte er sein schönes eichernes
Herrenzimmer aus der Thorwaldsenstraße unter, im dunklen Durchgangszimmer ( zu
allem Überdruß nun auch noch mit einer fast dunkelblauen Tapete versehen )
wurde das von den verstorbenen Eltern des Werner übernommene Speisezimmer
gestellt ( das solange irgendwo auf einem Speicher gestanden hatte ) und auch
die Küchenmöbel stammten aus der Scheelschen Wohnung.
Lediglich die Möbel vom Schlafzimmer, das sich im kleinen Zimmer zum Hof
befand, waren eine Neuanschaffung. So bescheiden hat man früher einen Hausstand
gegründet.
Nun mußte noch der Umzug von der Caprivistraße zum Rudolfplatz vollzogen
werden. Gustav Müller war wie wir wissen nicht nur ein sehr lieber sondern auch
ein sehr sparsamer Mensch - und wen wundert es da wenn er für den Umzug alle
verfügbaren Kräfte einsetzte. Von der Ehefrau Hedwig bis zur lieben
Schwiegermutter Anna, von Klein-Werner bis zum Brautpaar Georg und Elfriede,
alle mußten ran um den bestimmt nicht kleinen Hausrat von Wohnung und Büro über
die Straße um die Ecke zum Rudolfplatz zu tragen. Nur der Transport der ganz
schweren Möbel wurde von entsprechenden Fachleuten bewerkstelligt.
Wie dem auch sei, zum Zeitpunkt der geplanten Hochzeit waren alle körperlich
und nervlich völlig am Ende und niemand hatte so recht, Lust jetzt auch noch
eine große Hochzeitsfeier zu veranstalten. Das kam den Überlegungen des
"Brautvaters", der ja zur damaligen Zeit dazu verpflichtet war die
Hochzeit auszurichten, nur sehr gelegen und so entschloß man sich die
Hochzeitsfeier nur in ganz bescheidenem Rahmen und engsten Familienkreise
durchzuführen.
Darüber aber waren nun alle sonst so zahlreich versammelten Onkel und Tanten,
Cousins und Cousinen, ganz abgesehen von den anderen vielen Freunden und
Bekannten des Müller'schen Hauses so enttäuscht, daß sich Gustav Müller dazu
durchrang, dann wenigstens einen zünftigen Polterabend zu organisieren.
Meine Mutter aber sollte davon nichts wissen und es gelang tatsächlich alle
diesbezüglichen Vorbereitungen vor ihr geheim zu halten. Sie wunderte sich nur
als sie am Morgen vor ihrer Hochzeit beim Bäcker war um für den Hochzeitsmorgen
extra für sich und ihren Mann Brötchen zu bestellen, daß von bereits 80 (!)
bestellten Schrippen die Rede war - sie hielt dieses für einen Scherz und hatte
die ganze Angelegenheit dann wohl auch wieder schnell vergessen,
Am Abend verstand man dann geschickt meine Mutter für einen kurzen Augenblick
aus dem Verkehr zu ziehen, indem man sie aufforderte der "Muhme
Lene", die scheinbar als einzigste zum Polterabend eingeladen war, doch
mal die zukünftige Otto'sche Wohnung im 3. Stock zu zeigen.
Die ganze Angelegenheit muß ja geradezu feldmarschallmäßig geplant gewesen
sein, denn als nach kurzer Besichtigungszeit die beiden Damen wieder in die
Müller'sche Wohnung zurückkehrten, empfing sie ein ohrenbetäubendes Krachen der
zerschellenden Porzellangefäße und ein mächtiges Hallo aller wieder
versammelten Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Freunde und Bekannten, die
nun doch noch ihr geliebtes Friedchen würdig in den Stand der Ehe verabschieden
konnten.
Am nächsten Morgen, es war nun der 20. Oktober des Jahres 1932 angebrochen,
fuhr Gustav Müller das Brautpaar mit seinem "Adler" zum Standesamt in
die Koppenstraße, das sich in dem separaten Straßengebäude vor dem Andreas -
Realgymnasium (das ich später besuchte) befand. Trauzeugen war er selber und
Eugen Geyer, ein Freund meines Vaters.
Als sich dann das Brautpaar zur kirchlichen Trauung begab passierte es, daß
sich meine Mutter wegen des engen Haustürdurchganges von ihrem Mann entfernte
und vor ihm allein die Tür durchschritt. Das blieb den vielen schaulustigen
Hausbewohnern und Freunden aus der Caprivistraße natürlich nicht verborgen und
so konnte es nicht ausbleiben, daß eine Stimme (war es etwa die von Trude Mylius
?) warnend meinte, daß meine Mutter mal ihrem Mann davonlaufen würde.
Die Trauung wurde wie wir bereits wissen in der St. Petrikirche durch den
"Meister vom Stuhle" Pfarrer Habicht vollzogen - die lange
Brautschleppe war der 7 - jährigen Almuth Otto anvertraut worden, die als einzigste
Vertreterin der Spandauer Kinder das Glück hatte, an der Zeremonie teilzuhaben.
(Ein Umstand, der Gisela heute noch erzürnt).
Almuth hingegen kann sich heute noch nach nunmehr über 60 Jahren an das
köstliche Brautmahl erinnern, das offensichtlich wieder mal meine Oma auf den
Tisch des Hauses gezaubert hatte. Sie meint jedenfalls so etwas Köstliches nie
wieder in ihrem Leben gegessen zu haben.
Erst vor kurzem habe ich erfahren, daß es sich dabei um einen ganz gewöhnlichen
eingekerbten frischen Schweineschinken gehandelt hat, allerdings ein
Spezialgericht meiner Oma, an das auch ich mich immer wieder gerne erinnere,
zumal ich heute so etwas nicht mehr essen kann - ganz abgesehen davon, daß
meine Frau solch ein Gericht auch gar nicht kochen würde, da es laut Kochbuch
eine Zubereitungszeit von mehr als 3 Stunden benötigt!
Auch Hannchen Marczincmski war gekommen, um bei der Hochzeit ihres
"Lieblingsbruders" dabei zu sein. Damit auch die Braut ein bisschen
junges Volk um sich hatte, waren Ursel und Kurt Scheel geladen,
So zwei oder drei Tage nach der Hochzeit bemerkten meine Eltern urplötzlich daß
sie wohl doch etwas Wesentliches in all der Eile und dem nach dem nervenden
Umzug verständlichen Streß vergessen hatten, nämlich dieses Ereignis in
irgendeiner Form für die Nachwelt festzuhalten, sprich ein Foto zu machen. Für
einen richtigen Fotografen fehlte wohl wieder mal das Geld oder die Zeit oder
was weiß ich oder vielleicht hatte man es eben einfach vergessen - wie dem auch
sei meine lieben Eltern stülpten sich noch einmal ihre Hochzeitsgewänder über,
das zarte weiße Brautkleid mit dem langen Schleier (der in der Hochzeitsnacht
offensichtlich nicht zerrissen wurde) und der mit dem "Eisernen
Kreuz" geschmückte Frack, stellten sich im Bereich des großen Durchganges
vom Balkonzimmer zum Durchgangszimmer in Positur, die große Flügeltür war ausgehangen
und der Durchgang nur mit einem schönen schweren Vorhang geschlossen (er
bestand jeweils aus den Möbelstoffen der
betreffenden Zimmer) und fotografierten sich per Selbstauslöser. Auf einem der
Bilder ist der große schwarze Stuhl zu sehen, der auch heute noch in unserer
Wohnung steht - das "schönste" an den Bildern aber ist unzweifelhaft
der Brautstrauß (!). Ich glaube selbst derjenige, der die Bilder nicht kennt
kann sich mit einiger Fantasie vorstellen wie dieser 4 Tage nach der Hochzeit
ausgesehen hat.
Zuletzt geändert: 01.09.2022 10:34:31